Frank M. Reifenberg und Heiko Kunert: Interview im Dunkeln
"Im Prinzip müsste jedes Buch auch für Blinde zur Verfügung stehen."
Beitrag von Janett Cernohuby | 14. Januar 2018
Bei grauem Himmel und Regen fand in der Hauptbücherei in Wien eine ganz besondere Lesung statt: Eine Lesung im Dunkeln. Frank Maria Reifenberg und der blinde Vorleser Heiko Kunert trugen abwechselnd Tag- und Nachtszenen im Hellen beziehungsweise Dunkeln vor. Nach der Veranstaltung hatten beide noch Zeit für ein Interview mit Janetts Meinung.
Soeben ist die Dunkellesung zu Ende gegangen. Wie ist ihr Eindruck? Sind Sie zufrieden mit dem Event?
Heiko Kunert
Es hat viel Spaß gemacht. Obwohl wir die Dunkellesung schon einige Male gehalten haben, sind wir doch immer sehr aufgeregt und am Ende froh, wenn alles reibungslos vonstattengegangen ist.
Frank M. Reifenberg
Alle Lesungen sind gut gelaufen. Ich habe schon sehr viele Lesungen in unterschiedlichen Varianten gehalten. Wenn man zu zweit liest, so wie wir jetzt, ist das natürlich eine ganz neue Erfahrung. Als wir uns zum ersten Mal getroffen haben, war ich sehr aufgeregt. Ich hatte bisher noch keinen blinden Menschen kennengelernt und habe mir lauter Gedanken darüber gemacht. Jetzt sind wir schon sehr routiniert und wir passen auf der Bühne auch gut zueinander. Das Konzept klappt einfach. Es ist genau das, was uns bei der Idee vorschwebte. Der Einsatz der Blindenschrift kommt gut rüber, es werden Fragen gestellt. Das alles funktioniert sehr gut, ist super organisiert und in einer guten Atmosphäre.
Seit März 2017 veranstalteten Sie Dunkellesungen, heute war die letzte derartige Veranstaltung. Was nehmen Sie aus all diesen Lesungen mit nach Hause?
Frank M. Reifenberg
Ich nehme vor allen Dingen mit, dass man mit den Kindern viel mehr machen kann, als die meisten denken. Beispielsweise die Leuchtstäbe, die wir zu Beginn der Lesung verteilen. Hier gab es zunächst Bedenken, ob man damit nicht mehr Unruhe reinbringt. Das ist aber nicht der Fall. Ich erkläre den Kindern am Anfang immer, dass es spezielle Geräte zum Geisteraufspüren sind und man sie nicht kaputt machen soll. So sind die Kinder gleich viel aufmerksamer.
Ich finde es toll, von den klassischen Formaten des Vorlesens wegzugehen und neue Elemente einzusetzen.
Für die Lesung haben Sie sich etwas Besonderes einfallen lassen. Sie haben abwechselnd Tag- und Nachtszenen im Hellen und Dunklen gelesen. Dafür wurde das Buch in die Blindenschrift Braille übersetzt. Wie kamen Sie auf die Idee?
Frank M. Reifenberg
Vor eineinhalb Jahren habe ich bei der Gartenarbeit einen Bericht im Radio gehört. In diesem ging es um die Diskrepanz zwischen gedrucktem Buch und Bücher in Brailleschrift. Da ich für meine Lesung immer auf der Suche nach besonderen Ideen bin, habe ich gedacht, das wäre mal eine Möglichkeit. Ich hatte bereits in München mit einem bekannten blinden Vorleser Lesungen im Dunkeln gehalten. Der Verlag hat mich darin unterstützt und auch die Übersetzung des Buchs in Braille veranlasst. Ebenso hat er einen Teil der Kosten getragen.
Es ist schön, wenn meine Bücher nicht nur Spaß machen, sondern auch eine Botschaft weitergeben. Wobei der Spaß im Mittelpunkt steht.
Heiko Kunert
Das hat mich auch überzeugt. Es gibt durchaus das eine oder andere Konzept, das sich sehr pädagogisch dem Thema Blindheit nähert. Diese finde ich sehr wertvoll, aber dabei geht es nur um Blindheit. In unserem Fall fand ich es charmant, dass die vorgelesene Geschichte nichts mit dem Thema selbst zu tun hat. Es ist eine Geistergeschichte. Während der Lesung spielt man mit Hell und Dunkel, ohne das Thema Sehbehinderung zu sehr zu thematisieren. Es ist eine sehr spielerische Annäherung. Die Kinder können im Anschluss Fragen stellen, die in alle Richtungen gehen können. Wir geben nicht vor, was vermittelt werden muss. Alles hat eine spielerische, spontane Note. Das gefällt mir sehr gut.
Für sehende Kinder gibt es einen großen Buchmarkt. Wie sieht es für sehbehinderte Kinder aus?
Heiko Kunert
Genau wie bei der Erwachsenenliteratur gibt es auch hier nur einen Bruchteil in Blindenschrift. Viel zu wenig.
Ich erinnere mich, während meiner Schulzeit wurde oft überlegt, was im Unterricht behandelt wird. Die Bücher mussten speziell angefertigt werden. Oft wurden auch nur die Bücher behandelt, die es in Brailleschrift gab und andere, die der Lehrer gerne durchgenommen hätten, wurden weggelassen.
Frank M. Reifenberg
In Puncto Barrierefreiheit darf das eigentlich nicht sein. Gerade bei Kindern, die Lesen lernen müssen. Im Prinzip müsste jedes Buch für sie zur Verfügung stehen. Es braucht ja nicht komplett fertig gedruckt sein, aber wenn sie sagen, sie möchten ein bestimmtes Buch lesen, dann müssen sie das auch bekommen können. Selbst wenn es 70% der Kinderbücher in Blindenschrift gäbe, wäre das zu wenig. Die Aufteilung, wie es sie im Moment gibt, ist Horror.
Sehende erfassen Zeichengruppen, Worte und ganze Phrasen mit einer Augenbewegung. Das ermöglicht ihnen eine bestimmte Lesegeschwindigkeit. Blinden steht hierfür aber nur der Finger zur Verfügung. Können Sehbehinderte trotzdem vorausschauend lesen?
Heiko Kunert
In Maßen. Mit meinem Finger bin ich schon einen halben Satz weiter, aber man kann nicht so querlesen wie ein Sehender, der eine Seite als Ganzes erfasst und dann schnell die Stelle findet, die er sucht. Das geht natürlich nicht. Aber alles andere ist eine Frage der Übung.
Bereits als Kind habe ich gerne laut gelesen und lese auch heute noch sehr viel.
Wie werden sehbehinderte Kinder im Bereich Lesen gefördert? Oder gibt es Leseförderung nur für sehende Kinder?
Heiko Kunert
Es gibt natürlich Vereine, die sich insgesamt der Früherziehung und später der Kinder- und Jugenderziehung annehmen. Da spielt natürlich auch Lesen und Schreiben eine Rolle.
Frank M. Reifenberg
Ich glaube, es ist ja doch auch noch immer ein bisschen Thema, das man überhaupt ordentlich dafür sorgt, dass Kinder lesen und nicht nur Hörbücher hören.
Heiko Kunert
Das ist vor allem auch ein Trend der letzten Jahre, dass es immer mehr Bücher als Hörbuch gibt. Die Digitalisierung führt auch dazu, dass man sich Texte mit einer synthetischen Sprachausgabe am Computer vorlesen lässt und eben gar nicht mehr selber liest.
Aber Hören ist ja doch etwas anderes, als Lesen.
Gibt es mobile Geräte, mit denen man Blindenschrift lesen kann?
Heiko Kunert
Ja, es gibt sogenannte Braillezeilen. Das sind Geräte die an Computer angeschlossen werden und auf denen man zeilenweise abtasten kann, was am Bildschirm zu sehen ist. Ich kenne kaum jemanden, der so liest. In der Regel ist es doch eher so, dass man sich dies über die Sprachausgabe vorlesen lässt. Es ist einfach praktischer. Zumal auf diese Zeile nur 40 Zeichen passen, 80 wenn es eine breite ist. Zusätzlich muss man mit Tasten arbeiten, um in die nächste Zeile zu gelangen.
Kürzlich hat ein Hilfsmittel, ein eBook Reader in Braille, den Deutschen eBook Arward gewonnen. Aber das Gerät ist noch nicht auf dem Markt. Ich kann mir aber vorstellen, dass solch ein Gerät die Leute dazu bringt, wieder mehr in Blindenschrift zu lesen.
Kommen wir zum Buch zurück.
"House of Ghosts" ist eine Reihe, in der das Thema Jenseits und verstorbene Seelen angesprochen werden. Was muss man beachten, wenn man ein Gruselbuch für Kinder schreibt?
Frank M. Reifenberg
Darüber habe ich mir während dem Schreiben gar nicht allzu viele Gedanken gemacht.
Man muss natürlich einen Blick dafür haben, an welcher Stelle sich Kinder einerseits zwar voll auf die Geschichte einlassen und andererseits nicht sagen, das ist alles nur ausgedacht und daher nicht ist es nicht gruselig. Kinder müssen sich ganz auf die Geschichte einlassen können, gleichzeitig aber auch in der Lage sein, wieder auszusteigen. Das mache ich bei "House of Ghosts" oft durch witzige Aussagen. Beispielsweise in der Szene, als Melli zum ersten Mal den Einäugigen trifft. Er raucht eine Zigarette und der Qualm kommt aus den Ohren heraus. Gleichzeitig lösen sich auch seine Beine auf. Und alles, was er sagt ist "Ich sollte das Rauchen aufhören, das ist ja so schlecht für die Ohren."
Es sind immer wieder komische Stellen im Buch, um den gruseligen Stellen den Schrecken zu nehmen. Gelegentlich kann man die Personen auch über bestimmte Dinge reden lassen. Etwa was mit der Seele des Opas geschehen ist.
Grusel und Horror sprechen auch immer eine reale Ebene an. Man spielt mit dem Gedanken, ob das tatsächlich passieren könnte. Bei Kindern ist das natürlich viel ausgeprägter. Und das ist eine Gratwanderung. Doch das überlegt man sich nicht beim Schreiben. Dafür muss man ein Gefühl haben, sonst wird das Buch plötzlich für Leser ab 18.
Ich verwende in keinem meiner Bücher Gewalt, nur um es blutig werden zu lassen. Ich habe zwar Jugendbücher, in denen es wirklich fies zugeht, doch diese Gewalt passiert nicht. Sie ist so angelegt, dass man es sich nur vorstellt.
Was ist für Sie der Reiz an Gruselgeschichten?
Frank M. Reifenberg
Ich bin kein großer Gruselleser. Es ist immer auch das Spiel mit der Wahrscheinlichkeit. Könnte das sein?
Ich erinnere mich an eine Situation, als ich vor ein paar Jahren den Film "I am Legend" mit Will Smith gesehen habe. Darin gibt es eine Szene, in der er mit seinem Hund in ein Haus gehen muss, in dessen Keller eine Gruppe der durch einen Virus verwandelten Zombies sitzt. Diese sind einerseits total verängstigt, andererseits aber auch aggressiv. Ich wohnte damals in einem alten Haus mit zwei Tiefkellern. Das war dann schon sehr gruslig und ich bin mit einem mulmigen Gefühl durch das Treppenhaus gegangen.
Beim Lesen begibt man sich in eine virtuelle Gefahrenzone, mit Mächten, die man nicht beherrschen kann.
Im April 2018 kommt der dritte Teil zu "House of Ghosts" heraus. Dürfen Sie schon verraten, worauf sich die Leser freuen dürfen?
Frank M. Reifenberg
Das Buch heißt "Die Pension des Grauens".
"House of Ghosts" ist als Trilogie angelegt. Die Bücher folgen aufeinander. Im ersten Band geht es um das alte Haus, das die Familie erbt und um die Entdeckung der Pforte, durch die die verstorbenen, aber zurückgebliebenen Seelen ins Jenseits gehen können. Im zweiten Band müssen sie das Haus verteidigen, das sich die Bürgermeisterin unter den Nagel reißen will. Auch hat die Familie Schulden, während im Haus ein Schatz versteckt ist. "Pension des Grauens" lässt schon erahnen, dass aus dem Haus eine Pension wird. Und es gibt noch einen Handlungsstrang, der abgeschlossen werden muss: Da ist dieser Einäugige, der auch noch ein Bedürfnis hat.
Diese drei Stränge werden zusammengeführt und abgeschlossen.
Sie sind in der Jungenleseförderung tätig. Warum halten Sie diese für so wichtig?
Frank M. Reifenberg
Weil sie es besonders brauchen.
Fragt man Jungs im Alter von ca. 15 Jahren ob sie gerne lesen, werden 52 % antworten, sie lesen nur, wenn sie müssen. Bei Mädchen sind es dagegen nur ca. 25 %. In dieser Altersstufe geht die Schere weit auseinander. In der Schule sitzen zwei Gruppen, Jungs und Mädchen, die sich in ihrer Qualifikation um eine Schulstufe unterscheiden.
Das ist mir auch im Zuge meiner Lesungen aufgefallen, weswegen ich angefangen habe, mich mit diesem speziellen Thema zu beschäftigen. Ich bin mehr und mehr in eine Expertenrolle, in eine Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis gekommen. Die meisten Jungen haben einfach keine Lust zum Lesen, sie haben oft nicht den richtigen Lesestoff und vor allen Dingen sind viele auch in der Lesekompetenz sehr weit zurück. Sie kommen auf die Haupt-, Realschulen oder Gymnasien und können gar nicht richtig lesen.
Dort muss man ansetzen. Dazu gehört ein genderspezifisches Wissen, eine spezielle Fragestellung. Das habe ich mir dann angeeignet.
Für die Leseförderung ist es wichtig, dass auch die Eltern als Vorbildfunktion dienen. Wie kann man Kinder fördern, deren Eltern nicht lesen und kein Vorbild geben?
Frank M. Reifenberg
Das ist schwierig.
Lesen setzt schon vorher an. Ich würde fast schon sagen, dass auch Vorlesen eine größere Bedeutung hat. Vorlesen ist die Brücke zum Selbstlesen und beginnt bereits im Kleinkindalter mit Kleinkinderbüchern.
Beim Vorlesen ist auch der soziale Aspekt wichtig. Man macht etwas gemeinsam, liest nicht einfach nur ein Buch, sondern man kommuniziert mit einer Person, die man gerne mag. Das ist die Grundlage für das Eigenlesen. Für Kinder, denen nicht vorgelesen wurde, ist es viel schwieriger, einen positiven Zugang zum Lesen zu finden. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt.
Die Vorbildfunktion ist natürlich richtig. Für Jungs wären auch männliche Vorbilder wichtig, die nicht nur die Tageszeitung lesen. Wobei auch das schon viel ist. Jungs nehmen Lesen als eine weibliche Kulturpraxis wahr. Meistens sind es die Mütter, die vorlesen, später die Kindergärtnerinnen, die Grundschullehrerinnen. Hier gibt es fast gar keine Männer. Es geht weiter in der Buchhandlung, in den Kinderbuchabteilungen der Büchereien, wo vorwiegend nur Frauen arbeiten. Das alles vermittelt den Eindruck, dass nur Mädchen und Frauen lesen. In einem bestimmten Alter lehnen Jungs so etwas ab und finden alles was Mädchen machen ganz furchtbar. Viele verabschieden sich dann auch völlig vom Lesen.
Es hat also einen multifaktoriellen Hintergrund.
Wenn es in den Familien keine Bücher gibt, wenn Eltern nicht lesen, ist es natürlich noch schwerer. Denn hier erfahren Kinder nie, dass Lesen eine gute Sache ist. Alle haben ein Smartphone, ein Tablett, einen PC, aber niemand hat ein Buch. Da fehlt die Vorbildrolle, bei der man sich etwas abgucken kann.
Da sind dann quasi die Schulen und Lehrer gefragt?
Frank M. Reifenberg
Ja und da wird das Buch natürlich auch nicht mit besonders attraktiven Gefühlen verbunden. Im Unterricht werden Leistungen gefragt. Es geht nicht darum aus Spaß zu lesen.
Viele wissen nicht, dass Lesen ein relativ technischer Vorgang im Gehirn ist. Wir haben keinen Bereich, in dem nur Lesen stattfindet, sondern unser Gehirn muss alle Bereiche miteinander vernetzten. Deswegen ist Lesen auch so wichtig. Man muss es sich permanent hart erarbeiten, weswegen es von den Lesenlernenden auch als harte Arbeit empfunden wird. Unser Wunsch, dass Kinder ein Buch mit Freude lesen und für Stunden in seiner Handlung versinken, kommt erst später. Dafür müssen sie erst flüssig lesen lernen. Und das können selbst viele Erwachsene nicht.
Wie sehen Ihre nächsten Pläne und Projekte aus?
Frank M. Reifenberg
Bei Autoren im Kinder- und Jugendbuchbereich gilt: Nach dem Buch ist vor dem Buch.
Bei dtv wird es eine Reihe geben, die ich unter offenem Pseudonym und mit einem Co-Autor geschrieben habe. Der erste Band erscheint demnächst, der zweite ist geschrieben und es wird noch einen dritten Band geben.
Im Moment schreibe ich für arsEdition ein sehr spannendes und aufregendes Buch über die Kriegszeit 1942/43 in Köln. Es handelt von jugendlichem Widerstand und vom Leben in einer zerbombten Stadt.
Vielen Dank, dass Sie beide sich die Zeit für ein Interview genommen haben. Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg mit den aktuellen und zukünftigen Projekten.