Jens Sparschuh im Interview auf der Leipziger Buchmesse 2019

“Wichtig ist, dass man auch mal die Lebenswirklichkeit der Kinder so in den Blick nimmt, dass die sich darin wiederfinden…“

Beitrag von Janett Cernohuby | 29. März 2019

In Jens Sparschuhs jüngstem Kinderbuch „Jakobs Muschel“ erzählt er von einem Jungen - Jakob - der aus dem Urlaub eine Muschel mitgebracht hat, durch die man das Meer rauschen hören kann. Doch in der Wohnung funktioniert die Muschel nicht, weswegen Jakob draußen sitzt. Auf dem Klettergerüst des Spielplatzes. Dort sieht ihn ausgerechnet Jonas. Der mit den teuren Sportschuhen, den coolen Sprüchen und dem proletenhaften Auftreten. Der, der Jakob immer schikaniert. Natürlich schnappt sich Jonas sofort Jakobs Muschel - doch was dann passiert, damit haben beide nicht gerechnet.


Vor kurzem habe ich ihr jüngstes Kinderbuch „Jakobs Muschel“ in die Hände bekommen. Warum dieser Titel? Wie ist er entstanden?

Jens Sparschuh (c) Gerstenberg Verlag Ganz profan. Jakobsmuscheln, also die, die man essen kann, finde ich großartig.
Mein vorheriges Buch im Gerstenberg Verlag war „Der alte Mann und das Meerschweinchen“, und ich wollte mit dem neuen Buchtitel spielerisch daran anknüpfen. So ist der Titel entstanden. Ich glaube, der Titel stand schon lange fest, bevor das Buch dann geschrieben worden ist.

Auch noch vor der Geschichte oder wussten Sie schon, worum es gehen sollte?

Mir war das schon klar. Es ist ja eigentlich eine kleine Mobbinggeschichte, die in einem Problemviertel in Berlin spielt. Die Geschichte war mir ungefähr klar, aber wie es sich im Einzelnen entwickeln würde, das ergab sich erst beim Schreiben selbst.

In jeder Gruppe gibt es verschiedene Persönlichkeiten. Warum haben sie sich für zwei Jungs entschieden, die sich nicht grün sind. Von denen der eine introvertiert, der andere ein Rüpel ist?

Ich habe etwas Ähnliches selbst in meiner Kindheit erlebt.
Ich bin in einer Familie aufgewachsen, von der viele damals beim Karl May Verlag gearbeitet haben, als der noch in Radebeul, Sachsen, war. Ich bin mit Karl May aufgewachsen, mit all diesen Abenteuergeschichten von Old Shatterhand, wie er im Handumdrehen die Meute zum Schweigen bringt. Diese Geschichten haben sich mir verinnerlicht. Und so habe ich mir einen Nervtöter dadurch vom Hals gehalten, indem ich wüste, haarsträubende Geschichten darüber erzählt habe, was ich alles getan habe.

Warum ist es Ihnen wichtig, das Thema Mobbing zur Sprache zu bringen? Warum bei Kindern?

Es ist so ein erschreckend aktuelles Thema. Und wir befinden uns hier noch in einem analogen Vorfeld, auf einem Spielplatz, wo es gut oder schlecht ausgehen kann. Aber inzwischen nimmt es ja ganz andere Dimensionen an, im anonymisierten Netzwerk, wenn Kinder an einen Online-Pranger gestellt werden. Das ist richtig schlimm und deswegen kann man nicht früh genug damit anfangen, darauf hinzuweisen, dass es dieses Problem gibt. Es gibt meines Erachtens genügend Bücher, die Ferien auf dem Ponyhof beschreiben - sehr schön, sehr bunt, sehr ausführlich. Wichtig ist, dass man auch mal die Lebenswirklichkeit der Kinder so in den Blick nimmt, dass die sich darin wiederfinden, mit ihren Sorgen, mit ihren Ängsten und Problemen.

Wollen Sie über die Kinder die Erwachsenen erreichen?

Das ist ja das Spezielle bei Kinderbüchern: Normalerweise kaufen Kinder sich die Bücher nicht selbst, sondern sie gehen durch Erwachsene über den Ladentisch. Ich finde, gute Kinderbücher, etwa von Franz Fühmann oder James Krüss, sind alles auch Bücher, die Generationsgrenzen überspringen und überwinden können. Klar, hätte ich es gerne, wenn Erwachsenen klar wird, dass die Welt der Kinder nicht so unbeschwert ist, wie es von außen aussehen mag.

Wie nah ist die Geschichte von Jakob und Jonas am Kinderalltag?

Ich hatte in den letzten Jahren das große Vergnügen in einem Berliner Problemviertel regelmäßig literarische Vormittage begleiten zu dürfen. Die Gegend kann man sich ungefähr so vorstellen, wie es hier im Buch, im Einband, abgebildet ist. Das war mehr als nur eine Stippvisite oder Lesung. Ich haben mit den Kindern wirklich einen halben Tag verbracht, konnte hautnah miterleben, was bei ihnen abläuft. Ich habe gesehen, wie der eine immer wieder die Mütze klaut und sie dann irgendwohin schmeißt. Ich war also ganz nah dran und habe natürlich auch die Sprache sehr bewusst wahrgenommen, in der manche Sachen verhandelt wurden. Ich habe gesehen, dass diese coole und harte Sprache manchmal auch nur ein Panzer ist. Als die Kinder selbst Geschichten schreiben sollten, waren die coolen Jungs manchmal auch die sensibelsten. Sie haben es sich nur nicht getraut zu zeigen.

Woher kommt Jakobs Mut, Jonas mit der Geschichte über Jonny dem Seeräuber die Stirn zu bieten?

Das ist der Mut der Verzweiflung. Er sitzt da oben buchstäblich in der Falle, er kann an dem anderen nicht vorbei.
Ich muss an der Stelle aber auch mal für Jonas eine Lanze brechen: Irgendwann lässt er sich auf das Spiel ja auch ein. Das passiert in der Szene, als er Jakobs Geschichte von der Katze, die jeden Morgen an Bord eine Tasse frische Milch bekommt, hinterfragt. Als er wissen will, woher denn eigentlich die frische Milch kommt und sich beide mehr oder weniger auf diese Dose Kondensmilch einigen.

Es sind ja in dem Buch, wenn ich das so sagen darf, drei Texte der Weltliteratur, die mich schon mein ganzes Leben lang begleiten, ein bisschen paraphrasiert. Ich denke, ein Hauch davon sollte auch in der Kinderliteratur ankommen. Das ist „1001 Nacht“ natürlich, wo man etwas erzählt, um sein Leben zu retten. Das ist „Jakob der Lügner“ von meinem großen und wunderbaren Kollegen Jurek Becker. Und zu guter Letzt steckt auch ein kleines bisschen von „Des Kaisers neue Kleider“ im Buch, wenn Jonas, als er dann die Muschel hat, so tut als ob. Diese drei Texte standen Pate für das Buch.

Welche Rolle kommt der Fantasie innerhalb des Buchs zu?

Das ist die Befreierin.
Das ist die große Befreierin, die kann uns helfen, wenn wir nicht so platt denken, es ist so, es bleibt so. Wenn wir uns Münchhausenmäßig an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen. Das kann manchmal nur die Fantasie leisten und die hat eine Verführungskraft, wie man in der Geschichte sieht.

Können beide Jungs zu Freunden werden?

Ich denke, das bleibt ein kleines bisschen offen, aber so wie ich sie jetzt vor Augen habe, doch, ja. Ich bin mit dem Jungen, der mich damals dauernd genervt hat, bis heute befreundet. Und ich bin inzwischen schon fast 64 Jahre.

Welche Botschaft wollen Sie mit der Geschichte Kindern mit auf den Weg geben?

Mein großer Kollege Vladimir Nabokov hat sich immer dagegen gewehrt, dass man Bücher mit Botschaften versieht. Die Botschaft ist eigentlich das, was da ist.
Bei Lesungen zu „Der alte Mann und das Meerschwein“, wo ich viel mit Situationskomik und Humor gearbeitet habe, habe ich gemerkt, dass Kinder immer ganz gespannt dieser Geschichte folgen. Dass sie sich in die Figuren hineinversetzen, sich Gedanken machen, ob das gut ausgehen kann oder nicht. Mehr Botschaft muss nicht sein.
Wenn eine Botschaft gesucht wird, dann wäre es für mich die, dass es okay ist, sich lieber etwas auszudenken, als - wie Karl May es sagen würde - die Fäuste sprechen zu lassen.
Das wäre die minimale Botschaft, die ich da übermitteln will.

Was macht es für Sie so besonders, für Kinder zu schreiben?

Es ist ein wunderbares Publikum. - Nichts gegen die erwachsenen Leserinnen und Leser, die schätze ich. Aber die sind schon ein bisschen von der Literatur verdorben und verbildet. Bei Kindern geht es bei Zustimmung und Ablehnung viel unmittelbarer zu. Bei einer langweiligen Geschichte kann es passieren, dass dann schon mal Papierkügelchen auf die Bühne geworfen werden. Das ist eine vertretbare Reaktion und hier hilft eigentlich nur, dass man Geschichten so schreibt, dass eben keine Papierkügelchen geflogen kommen. Kinder sind ein tolles Publikum. Sie sind so hellwach. Sie müssen binnen kürzester Zeit eine Menge an Informationen verarbeiten, wofür die Menschheit Jahrhunderte gebraucht hat. Das 1x1, das Alphabet… Darum gibt es auch diese sehr genaue Zuordnung zu Zielgruppen. Bei Kindern finde ich das völlig legitim. Wenn wir beide trotz unterschiedlichen Alters ein Buch lesen, dann geht das. Zwischen Kindern aus der 3. oder 7. Klasse liegen Welten. Deswegen ist es eine besondere Herausforderung, sich auf die einzustellen, die man gerade als Publikum im Auge hat.

Welchen Einfluss, glauben Sie, können Kinderbücher auf das wirkliche Leben haben?

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Kinderbücher einem zeigen können, dass die Welt manchmal nicht ganz so einfach ist, wie sie sich darstellt. Ich bin beispielsweise mit Peter Hacks Kindergedichten groß geworden, die sehr vertrackt, komisch und ironisch sind. Das hat mir viel über die Welt beigebracht. Das ist dieses Lesen lernen im ganz buchstäblichen Sinn. Man nimmt neben der Botschaft, die unmittelbar schwarz auf weiß dasteht, vielleicht noch eine andere Botschaft wahr, die zwischen den Zeilen steht oder die in Wortspielen steckt. Das ist etwas, das man fürs Leben braucht..

Gibt es aktuell ein Kinderbuch, an dem Sie schreiben?

Ja, aber darüber sollte ich zum aktuellen Zeitpunkt noch nichts weiter sagen. Sonst schreib ich es dann am Ende gar nicht auf.

Dann warten wir gespannt auf dieses neue Buch. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns dieses Interview genommen haben.

 

Jens Sparschuh: Jakobs MuschelJakobs Muschel
Jens Sparschuh, Julia Dürr
64 Seiten, ab 7 Jahre
Gerstenberg Verlag
13,95 €

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Fotos von Gerstenberg Verlag
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