Memories of Summer


Wer bist du ohne Vergangenheit?
von Janna Ruth
Rezension von Janett Cernohuby | 08. Oktober 2021

Memories of Summer

Wie wichtig sind Kindheitserinnerungen? Wären wir bereit, auf sie zu verzichten, wenn wir stattdessen dafür einen kleinen Nebenverdienst bekämen? Geld, das wir für ein kleines Stück Luxus oder die Begleichung wichtiger Rechnungen gebrauchen könnten? Janna Ruth geht diesen Fragen nach und skizziert ein gefährliches Gesellschaftsbild.

Der Wert von Erinnerungen

Der 17-jährige Mika besucht regelmäßig das NEURO-Institut, um dort seine schönen Kindheitserinnerungen zu Spenden. Mit dem Geld leistet er sich kleine Extras, die in seiner von Armut geprägten Familie sonst nicht möglich wären. Gleichzeitig hilft er mit seiner Spende Menschen, die an schweren Depressionen erkrankt sind. Diese bekommen die Erinnerungen eingepflanzt und können so ihre Krankheit erfolgreich besiegen. Doch als Mika die gleichaltrige Lynn trifft, ändert sich alles. Lynn steht nicht nur vor der Frage, ob sie eine solche Spende annimmt oder nicht, sie erkennt Mika im NEURO-Institut auch sofort wieder. Er ist der Junge, mit dem sie im Kindergarten befreundet war. Mit dem sie im Wald ein geheimes Versteck hatte, wo sie sich regelmäßig zum Spielen getroffen haben. Doch davon weiß Mika mittlerweile nichts mehr, denn er hat den Großteil seiner Erinnerungen weggeben. Während er und Lynn über die Vorzüge und Nachteile dieser Memospende diskutieren, ereilt Mikas Familie ein Schicksalsschlag. Sein Vater ist todkrank, kann die Medikamente und Behandlung nicht zahlen. Schmerzhaft wird klar, wie sehr Mika das Geld für seinen Vater braucht. Doch ist es den Verlust seiner Kindheitserinnerungen wirklich wert, um dem Vater Linderung zu verschaffen? Immer öfter muss sich Mika mit dieser Frage auseinandersetzen. Aber nicht nur. Denn genauso wie man gute Erinnerungen spenden kann, kann man auch schlechte Erinnerungen weggeben. Doch wer würde diese brauchen und wofür?

Tiefgründiger Jugendroman

Janna Ruth erzählt einen dichten und atmosphärischen Roman, der in nicht allzu ferner Zukunft spielt. Darin wirft sie viele moralische und ethischen Fragen über die Bedeutung von Erinnerungen auf. Welchen Wert haben Kindheitserinnerungen, an die wir uns vielleicht gar nicht mehr erinnern und die irgendwo in den Tiefen unseres Gedächtnisses verkümmern? Sind diese Erinnerungen wirklich wichtig? Könnten wir ohne sie auskommen oder würde uns das zu einem anderen Menschen machen? Dem gegenüber steht die Frage, was solche Erinnerungen für jemanden Fremden bedeuten. Im Buch erhalten an Depression erkrankte Menschen positive Erinnerungen, die sie stärken und ihnen neue Lebenskraft zurückgeben. Doch auch da kommt die Frage auf, ob das noch die gleiche Person ist. Was passiert mit jemandem, der plötzlich eine Erinnerung über einen Sommerurlaub am Meer erhält, wo er vielleicht niemals gewesen ist?
Immer wieder lässt Janna Ruth ihre Protagonisten über diese Fragen diskutieren. Gleichzeitig können wir sehen, welche Auswirkungen die Memospende auf Mika hat. Es geht unter die Haut, wenn er immer mehr seiner Persönlichkeit verliert, wenn liebgewonnene Menschen von einem Moment auf den nächste zu Fremden werden. Und doch kann man Mika verstehen. Seine Familie lebt schon lange an der unteren sozialen und finanziellen Grenze. Die Krankheit seines Vaters bringt weitere Geldsorgen. Was bedeuten da schon ein paar Kindheitserinnerungen mehr oder weniger?
Janna Ruth spinnt diesen Faden weiter und wendet die Problematik in eine andere Richtung. Wenn man positive Erinnerungen entfernen und einsetzen kann, dann geht dies auch mit negativen Erinnerungen. Welche Möglichkeiten wären hier wohl gegeben?
Fesselnd und packen skizziert die Autorin das Bild einer Gesellschaft, die am Rande einer dystopischen Zukunft steht. Worüber sie hier schreibt, klingt unglaublich, nahezu unmöglich: Die Entfernung von Erinnerungen aus dem Kopf eines Menschen und das Einpflanzen selbiger bei einem anderen. Durch die moralischen Fragen, die die Autorin aufwirft, nimmt man ihr dieses Szenario ab. Was bedeuten Erinnerungen für jeden selbst und wären wir bereit, auf sie zu verzichten? Eine Frage, die man sich während des Lesens immer wieder stellt und die nach der Lektüre des Buchs noch nachklingt.

„Memories of Summer: Was wärst du ohne deine Erinnerung“ ist ein fesselnder Jugendroman mit vielen moralischen und ethischen Fragen. Was bedeuten Erinnerungen, unter welchen Umständen wären wir bereit, auf sie zu verzichten und was würde das mit uns machen? Atmosphärisch zeichnet die Autorin das Bild einer nicht allzu fernen Zukunft und lässt uns in das komplett gegensätzliche, aber dennoch eng miteinander verbundene Leben zweier 17-jähriger Teenager eintauchen.

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