Anders

von Andreas Steinhöfel
Rezension von Janett Cernohuby | 22. Februar 2016

Unser Gehirn verfügt über einen unsichtbaren Schutzmechanismus. In schwierigen Situationen versteht es meisterhaft, uns dadurch zu schützen, dass es traumatische Ereignisse einfach ausblendet, verdrängt. Diese sind nicht verloren, nur hinter einer Tür versteckt, die es zu finden und zu öffnen gilt. Erst wenn wir dies geschafft haben, sind wir bereit, uns mit den schrecklichen Ereignissen auseinander zu setzen. Eine solche Geschichte erzählt auch Andreas Steinhöfel in seinem Jugendbuch "Anders", das uns als Hörspielinszenierung des WDR vorliegt.

Genau an seinem 11. Geburtstag erleidet Felix einen schweren Unfall. Nach 263 Tagen im Koma geschieht ein Wunder. Felix kehrt ins Leben zurück. An seinen Unfall und die Zeit davor kann er sich nicht mehr erinnern. Zurück zu Hause, versuchen alle sich mit der Situation zu arrangieren. Seine Mutter geht automatisch zur Tagesordnung über, der Vater dagegen versucht Felix dabei zu helfen neu anzufangen. Felix fühlt sich verloren. Er ist jetzt anders und nennt sich auch so. Anders. Zudem spürt er, dass da vor seinem Unfall irgendetwas war. Aber was? Er geht wieder in die Schule, doch was ihn früher interessierte und ihm gefiel, scheint ihm nun egal zu sein. Er wechselt die Kurse - sehr zum Missfallen seiner Mutter, die Felix Lebensweg schon bestens geplant hatte. Und dann sind da noch seine angeblichen Freunde Nisse und Ben, die sich auffällig nervös verhalten. Was ist das für ein Geheimnis, das im Verborgenen bleiben soll?

"Anders" ist ein fantastisches Hörspiel und grandioses Jugendbuch. Wobei man zugeben muss, dass es für jugendliche Leser sehr anspruchsvoll geschrieben ist. Denn es geht hier nicht nur um einen Jungen, der aus dem Koma erwacht, keine Erinnerungen mehr an sein Leben vor dem Unfall hat und nun versucht, mit der Situation umzugehen. Es geht um viel mehr. Es geht um das Verhältnis zwischen Felix und seinen Eltern, insbesondere seiner Mutter, die seinen Weg bereits bis ins kleinste Detail geplant zu haben scheint. Sie bestimmt, welche Interessen Felix hat und was er später werden soll. Dieser Mutter macht Anders, wie Felix sich nun nennt, einen Strich durch die Rechnung. Denn mit dem Ändern seines Namens, ändert Anders auch seine Interessen, sein Verhalten - eben alles. Er ist auf der Suche nach sich selbst, seinen Erinnerungen und vor allem nach dem Geheimnis, das verschlüsselt auf seinem Laptop liegt.
Andreas Steinhöfel erzählt diese Geschichte sehr fesselnd, teilweise poetisch und mit einem Hauch Übernatürlichem. Seine Sprache ist so klar, wie die eisige Luft eines kalten Wintertages. Die Stimmung ist düster und bedrückend, wie der graue Novemberhimmel. Dabei spielt die Geschichte im Sommer.
Das Buch ist relativ kurz, doch dem Autor ist es meisterhaft gelungen, mit wenigen Worten eine tiefgründige Handlung zu schreiben. Man erfährt vieles über die Charaktere und deren Hintergrund allein durch das, was zwischen den Worten liegt. In ungeschriebenen Formulierungen und ungesagten Dialogen. Seine Charaktere sind gut ausgearbeitet, manche sind nur als Schattenrisse wahrzunehmen, andere umso klarer.
Die Umsetzung als Hörbuch ist, wie bereits erwähnt, fantastisch. Hier ist den Produzenten des WDR ein Meisterwerk gelungen. Düstere musikalische Töne tragen die Geschichte und verleihen ihr eine bedrückende Atmosphäre. Geflüsterte Zwischenrufe aus dem Off lassen dem Hörer einen Schauer über den Rücken laufen. Hier ist absolut nichts in Ordnung und das hört man in jedem gesprochenen Satz, in jeder gespielter Note und in jedem einzelnen Hintergrundgeräusch.

"Anders" von Andreas Steinhöfel ist ein Hörspiel, das seinem Namen alle Ehre macht. Obwohl im Sommer spielend, wird dem Hörer eine graue und kalte Welt präsentiert, in welcher ein elfjähriger Junge nach seinem Unfall aus dem Koma erwacht und auf der Suche nach sich selbst ist. Eine grandiose Geschichte, deren Stimmung durch die hervorragende Umsetzung als Hörspiel noch treffender betont wird.