Tim Kalvelage im Gespräch

„Bemerkenswert ist unter anderem diese Weite und eine für uns im Prinzip völlig fremde, zum Großteil von Eis bedeckte Welt.“

Beitrag von Janett Cernohuby | 28. Oktober 2022

Es gibt Gebiete auf der Erde, in denen Menschen einfach nicht heimisch werden können. Zu diesen besonders Zonen der Extreme gehören die Polarregionen. Dr. Tim Kalvelage hat mit „Polarstern - Forschen im Eis“ einen Sonderband für die Reihe „WAS IST WAS“ geschaffen, in der man viele über die Pole und auch die größte Polarexpedition aller Zeiten erfahren kann. Wir haben die Möglichkeit bekommen, dem Autor auf der Frankfurter Buchmesse einige Fragen zu seinem neuen Werk zu stellen.


Dr. Tim Kalvelage: WAS IST WAS Polartern. Forschen im EisHallo Herr Dr. Kalvelage. Sie hatten heute hier am Stand des Tessloff Verlags eine Veranstaltung rund um ihr neues Buch „WAS IST WAS Polarstern“. Wie war es?
Es hat richtig Spaß gemacht. Es ist nicht das erste Mal, dass ich einen Vortrag gehalten habe, aber es war das erste Mal vor einem so jungen Publikum. Ich hatte den Eindruck, dass sowohl die jüngeren Zuhörer*innen, als auch die älteren den Vortrag spannend fanden und fasziniert waren von den Bildern aus den Polargebieten.

Sie sind studierter Biogeochemiker und arbeiten als freier Wissenschaftsjournalist. Was hat Sie auf die Idee gebracht, an der Expedition der „Polarstern“ teilzunehmen?
Das war nicht meine erste Expedition. Als Forscher, aber auch als Journalist habe ich schon vor der Polarstern-Reise mehrere Expeditionen begleitet. Die Polarstern ist das größte, berühmteste deutsche Forschungsschiff und noch dazu ist sie in Gegenden unterwegs, in die man sonst nicht so leicht kommt. Da war es natürlich ein Traum, einmal mit der Polarstern ins Eis zu fahren. Abgesehen davon ist es genau mein Themengebiet. Ich berichte ja hauptsächlich über Ozean- und Klimaforschung und da sind die Polargebiete gerade in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus gerückt. Insofern war es dann naheliegend, sich um eine Mitfahrt auf der Polarstern zu bemühen.

Manchmal passieren auf einer Reise auch Zufälle…
…auf dieser Reise gleich mehrere: Unter anderem waren wir mit der Polarstern zufällig in der Nähe, als ein riesiger Eisberg vom Schelfeis abgebrochen ist, das den Kontinent umgibt.

Wusste die Besatzung der „Polarstern“ um den bevorstehenden Abbruch?
Das war nicht überraschend, sondern hat sich schon angedeutet, bevor wir auf die Falklandinseln geflogen sind, von wo aus die Polarstern in die Antarktis aufgebrochen ist. Einen der Risse im Schelfeis hatten Forschende schon seit Jahren beobachtet, wie er sich ausweitete und schließlich ein zweiter Riss entstand. Es deutete viel darauf hin, dass in den nächsten Wochen bis Monaten ein Eisberg abbrechen würde. Wann genau, konnte natürlich niemand vorhersagen. Die Meereis-Physiker an Board der „Polarstern“ haben regelmäßig Satellitenbilder ausgewertet, die sie sowieso für ihre Forschungseinsätze immer sichten. Irgendwann war klar, dass wir den Abbruch gerade noch so erwischen könnten. Wir hatten Glück und waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Die Antarktis ist ziemlich groß und es kommt selten vor, dass ein Eisbrecher gerade dort ist, wo ein solcher Tafeleisberg abbricht.

War Ihrem Team sofort klar, dass das Abbrechen des gewaltigen Eisberges eine Möglichkeit bietet, die so schnell nicht wiederkommt?
WAS IST WAS: Polarstern. Forschen im EisJa, das war von vornherein klar. Das war auch deshalb interessant, weil die Polarstern einige Jahre zuvor bereits einmal versucht hatte, einen Abbruch zu erforschen. Im Weddelmeer an der Antarktischen Halbinsel war damals ein großes Schelfeis abgebrochen, das Larsen-B-Schelfeis. Das Interessante an diesen Abbrüchen ist, dass dann ein Stück Meeresboden freigelegt wird, der vorher unzugänglich war, weil da eine dicke Eisplatte darüber schwamm. Das wollten die Forscher*innen untersuchen. Aber es war ihnen nicht gelungen, weil einfach zu viel Meereis im Weg war und die Polarstern auf dem Weg zur Abbruchstelle stecken geblieben ist und schließlich umkehren musste. Jetzt hatten sie plötzlich die einmalige Gelegenheit, ein Stück jungfräulichen Meeresboden zu erforschen.

Wie lange hat es gedauert, alle Forschungsergebnisse nach der Expedition zu dokumentieren?
Die Auswertung der Daten ist noch nicht abgeschlossen und ist in der Regel eine Arbeit von Jahren. Einige Ergebnisse sind schon veröffentlicht, beispielsweise über die Eisfische, die dort am Meeresboden brüten. Das kommt übrigens auch im Buch vor. Auf der Expedition wurde mit 60 Millionen Eisfischen die größte Fisch-Brutkolonie im Ozean entdeckt. Das wurde zeitnah veröffentlicht. Aber viele Daten werden immer noch ausgewertet.

In Ihrem bei Tessloff erschienenen Werk „Polarstern - Forschen im Eis“ haben Sie etwas weiter ausgeholt und nicht nur die Polargebiete selbst, sondern auch deren Geschichte und die der dortigen Flora und Fauna vorgestellt. Wie tief kann man bei einem Kinderbuch in diese Themen eindringen? Was vereinfacht man oder lässt man weg?
Das ist keine einfach zu beantwortende Frage. Zum einen ist die Flora recht überschaubar. Die Pflanzenwelt beschränkt sich überwiegend auf das Phytoplankton im Ozean und Eisalgen. An Land gibt es in den eisfreien Gegenden der Polargebiete vor allem Gräser, Moose und Flechten, auf die im Buch aber nicht näher eingegangen wird. Das ist nicht der spannendste Aspekt. Eisbären, Pinguine, Wale, Robben, die charismatische Megafauna der Polarregionen, die fasziniert hingegen alle.
Dann gibt es natürlich Einschränkungen hinsichtlich des im Buch zur Verfügung stehenden Platzes. Ich habe versucht, spannende Aspekte auszuwählen, die in anderen WAS IST WAS Bänden und in anderen Kinderbüchern noch nicht vorkommen. Die Doppelseite zum Thema polare Tiefsee und zum Leben am Meeresboden ist ein Beispiel dafür. Außerdem wollte ich Themen aufgreifen, die nah dran sind an der aktuellen Forschung.

Was ist Ihrer Meinung nach das Bemerkenswerteste an den Polarregionen?
WAS IST WAS: Polarstern. Forschen im EisDa lassen sich etliche Punkte aufzählen. Bemerkenswert ist unter anderem diese Weite und eine für uns im Prinzip völlig fremde, zum Großteil von Eis bedeckte Welt. Die Polargebiete sind sehr unwirtliche Lebensräume, die der Mensch nur sehr begrenzt bevölkert hat, etwa die Inuit in Kanada und auf Grönland und einige andere Volksgruppen in der südlichen Arktis. In der Antarktis leben Menschen überhaupt nicht dauerhaft, dort wird nur geforscht. Trotz dieser harschen Lebensbedingungen sind die Polargebiete vielerorts erstaunlich tierreich, besonders in den Sommermonaten.

Was bedeutet die Klimakrise für die Erforschung der Polarregionen?
Die Polargebiete gehören zu den Regionen, in denen der Klimawandel deutlich sichtbar ist. Gerade die Arktis ist im besonderen Maße von der Erderwärmung betroffen. Sie erwärmt sich zwei- bis dreimal, stellenweise sogar viermal so schnell wie der Rest der Erde. Der Arktische Ozean ist heute im Sommer zu großen Teilen bereits eisfrei und auch im Winter zieht sich das Eis immer mehr gen Nordpol zurück. Durch den Eisrückgang haben die Polargebiete in den letzten Jahren sehr viel Aufmerksamkeit bekommen und sind ins Bewusstsein von Politik und Öffentlichkeit gerückt. Die Polarforschung profitiert davon und ist gleichzeitig wichtiger denn je.

Steht für Sie bald wieder eine Forschungsreise auf dem Plan, die Sie begleiten werden?
Ja, tatsächlich breche ich Ende Oktober wieder auf. Dieses Mal geht es aber nicht in die Polarregion, sondern in den tropischen Pazifik. Ich bin auf der Sonne, dem derzeit modernsten deutschen Forschungsschiff, unterwegs. Die Expedition beginnt an der Westküste der USA. Von dort aus begleite ich Forschende auf der Sonne in den nördlichen Pazifik, die dort die Folgen des Tiefseebergbaus untersuchen.

Wird es darüber vielleicht auch einen WAS IST WAS Band geben?
Ich glaube, für ein eigenes Sachbuch ist das Thema zu speziell. Berichte über die Expedition und Bilder wird es aber auf jeden Fall in Magazinen und Zeitungen geben. Vielleicht wird das Thema auch irgendwann in ein Buch zum Thema Tiefseeforschung einfließen.

Wie hat sich die Möglichkeit zu dem Band „Polarstern - Forschen im Eis“ ergeben?
WAS IST WAS: Polarstern. Forschen im EisDer Verlag ist auf mich zugekommen. Die Anfrage kam, als ich gerade auf der Polarstern in der Antarktis unterwegs war. Ich vermute, das war dem Verlag gar nicht bewusst. Ich hatte allerdings vorher schon eine Expedition auf dem deutschen Eisrand-Forschungsschiff Merian in die Arktis begleitet. Darüber hatte ich einige Artikel veröffentlicht und vermutlich ist der Verlag so auf mich aufmerksam geworden. Das Timing war perfekt. Denn durch meine Reise mit der Polarstern hatte ich viele Inspirationen und einiges über das Schiff und die Forschung an Bord zu erzählen.

Wie sah die Zusammenarbeit mit dem Tessloff Verlag aus?
Aus meiner Sicht hat das sehr gut geklappt. Es ist mein erstes Buch und für mich auch ein Lernprozess gewesen. Ich schreibe ja sonst nicht für junge Leser*innen, daher musste ich mich sprachlich erst einmal auf diese Zielgruppe einstellen. Unterschätzt habe ich den Umfang des Buches. Im Verlag hatte man dankenswerterweise Nachsicht, als ich zwischendurch in Verzögerung geraten war. Ich habe dann noch mal einen guten Endspurt beim Schreiben hingelegt. Aber ich vermute, es gab eine Phase, in der meine Lektorin gezweifelt hat, ob ich wohl noch rechtzeitig liefern werde.
Am Ende war es eine sehr produktive Zusammenarbeit, vor allem mit meiner Lektorin und auch bei der Abstimmung des Layouts. Das Zusammenspiel von Text, Bildern und Infografiken ist bei den WAS IST WAS Büchern ja zentral. Und ich war ziemlich überrascht, wie stark ich auch in die Gestaltung des Buches involviert wurde und wieviel Mitspracherecht man mir zugestanden hat. Mit dem Ergebnis bin ich mehr als zufrieden!

Herr Dr. Kalvelage, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für das Interview genommen haben. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei der nächsten Expedition auf der Sonne.

WAS IST WAS: Polarstern. Forschen im EisWAS IST WAS: Polarstern. Forschen im Eis

Dr. Tim Kalvelage
gebunden, 96 Seiten
Tessloff Verlag, Oktober 2022
ISBN: 978-3-7886-7628-5

Zur Rezension

   

 

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