Brudergeheimnis

von Emiel de Wild
Rezension von Janett Cernohuby | 12. April 2016

Brudergeheimnis

Wir Eltern wollen unsere Kinder beschützen und alles von ihnen abwenden, was ihnen in irgendeiner Form Schaden zufügen kann - ganz gleich, ob körperlichen oder seelischen. Unbewusst und ungewollt fügen wir ihnen mit Schweigen und Vertuschen aber noch größeren Schaden zu, als wir ahnen. Wir sollten ihnen mehr zutrauen, denn sonst können Probleme entstehen, die noch viel größer sind, als jene, vor denen wir sie beschützen wollten. Das greift auch Emiel de Wilds Jugendroman "Brudergeheimnis" auf.

Sehr früh am Morgen wird Juri von seinen Eltern geweckt, ins Auto gesetzt und zu seiner Oma gefahren. Ohne eine weitere Erklärung. Und ohne seinen Bruder Stefan, mit dem er eigentlich vorhatte, die gerade beginnenden Sommerferien zu verbringen. Doch nun ist alles ganz anders. Schweigen, Geheimnisse und ein fehlender Bruder. Was ist mit Stefan passiert? Warum geht er nicht an sein Handy? Warum lassen seine Eltern ihn nicht mit Juri sprechen? So vergehen die Sommerferien und als ihn seine Eltern endlich wieder nach Hause holen, hat Juri kein Zuhause mehr. Seine Eltern sind in einen fremden Ort gezogen, in ein fremdes Haus, mit einem Zimmer für ihn, aber keinem für seinen Bruder Stefan. Juri besucht ab sofort eine neue Schule - doch Antworten auf seine Fragen bekommt er keine. Lediglich, dass er seinen Bruder vergessen soll. Dass seine Eltern nur noch ein Kind haben: ihn. Doch so leicht gibt Juri nicht auf und er beginnt nach seinem Bruder zu suchen.Endlich brechen seine Eltern ihr Schweigen. Doch was er nun erfährt, ist noch viel schlimmer…

"Brudergeheimnis" ist ein zutiefst erschütternder und verstörender Roman. Der elfjährige Juri wird von heute auf morgen aus seinem vertrauten Leben gerissen und in ein neues geworfen, ohne auch nur ansatzweise eine Erklärung zu bekommen. Stattdessen verlangen seine Eltern nur, dass er sich fügt und weitermacht, als wäre nichts geschehen. Doch haben sie sich jemals Gedanken gemacht, wie das gehen soll? Welcher Mensch ist so emotionslos, so kaltherzig, dass er einfach so tut als wäre nichts gewesen? Vor allem wenn man seinen plötzlich verschwundenen Bruder so sehr liebt, wie Juri es tut? Zu seinem Besten wollen sie es getan haben, um ihn zu schützen. Aber schützen wovor? Und was ist gut daran, wenn man jemanden die Chance verweigert, sich dem Leben mit seinen Tiefen zustellen, egal wie schmerzhaft sie sind? Daran wächst niemand und die Augen vor Problemen zu verschließen, hat noch nie funktioniert. So kommt auch in dieser Geschichte was kommen muss, die Wahrheit findet einen Weg und der dadurch entstandene Vertrauensbruch ist noch größer, noch schwerer. Gleichzeitig beweist der mittlerweile 12jährige Protagonist eine Reife, wie sie seine Eltern hätten haben müssen.
Der Schreibstil von Emiel de Wild ist großartig. Er erzählt keinen Roman im klassischen Sinn, sondern er trägt den Lesern die Geschichte in Form von Briefen vor. Briefe die entstanden sind, als Juris Eltern begannen, sich in Schweigen zu hüllen. Was blieb dem Jungen noch übrig, als seinem Bruder Briefe zu schreiben? In der Hoffnung, sie würden ihn erreichen. Damit hörte er auch nach seiner Rückkehr zu den Eltern nicht auf. Natürlich werden diese Briefe niemals abgeschickt, stattdessen werden sie zu einer Art Tagebuch, durch das wir Leser Einblick in Juris Leben erhalten. Seine Verwirrung, seine Sorgen, sein Misstrauen - das alles errfährtman aus erster Hand. So wird der Leser zu einem stummen Zeugen, der Juri bei der Suche nach seinem Bruder begleitet, mit ihm leidet und fühlt. Daher trifft gegen Ende nicht nur Juri die Wahrheit wie ein Schlag ins Gesicht, sondern auch den Leser.
Emiel de Wild hat ganz faszinierende Charaktere geschaffen. Juri, der verzweifelt nach seinem großen Bruder sucht und sich nicht in die vorgefertigte Rolle, die seine Eltern für ihn geschaffen haben, fügen will. Seine Eltern, die selbst mit der Situation überfordert sind, und noch viel größere Fehler an Juri begehen. Wobei am Ende deutlich wird, dass hier (wieder einmal) die Mutter die treibende Kraft war und der Vater sich hat mitziehen lassen. Sie belügt nicht nur Juri, sie belügt auch ihren Mann und vor allem sich selbst. So ist sie auch diejenige, die unter der Last all der Geheimnisse zusammenbricht. Selbst Stefan darf der Leser kurz kennenlernen. Man bekommt kein sehr deutliches und klares Bild von ihm gezeichnet, dennoch spürt man, dass auch er eine Menge Probleme zu bewältigen hat.

Emil de Wild schuf mit "Brudergeheimnis" ein unglaublich erschütterndes, ergreifendes und darüber hinaus auch verstörendes Werk. Es schildert die Verzweiflung von Eltern, wenn ihre Kinder auf die schiefe Bahn geraten und sich nicht ihren Vorstellungen gemäß entwickeln. Es erzählt von dem falschen Beschützerinstinkt, der in einer solchen Extremsituation entsteht und welche Konsequenzen dieser haben kann. Es erzählt aber auch davon, dass Kinder manchmal viel mehr verkraften und bewältigen können, als wir Erwachsene ihnen gemeinhin zutrauen. Offenheit und Ehrlichkeit dürfen in keiner Familie fehlen, ganz egal, wie tragisch und schrecklich Ereignisse auch sein mögen.

Details

  • Autor*in:
  • Genre:
  • Sprache:
    Deutsch
  • Erschienen:
    02/2016
  • Umfang:
    202 Seiten
  • Typ:
    Hardcover
  • Altersempfehlung:
    12 Jahre
  • ISBN 13:
    9783772527814
  • Preis (D):
    17,90 €

Bewertung

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