Ein Bett, eine Toilette, ein warmes Zimmer. Das sind alltägliche Dinge, die für uns selbstverständlich sind und uns jederzeit zur Verfügung stehen. Wir machen uns keine Gedanken darüber, wie ein Leben ohne diesen Luxus aussehen würde. Ja, wir empfinden es noch nicht einmal als Luxus. Für Felix, den Protagonisten aus Susin Nielsens Jugendroman, bedeuten diese Dinge die Welt. Denn sie sind es, die ihm seit einigen Monaten fehlen, genauso wie ein fester Wohnsitz.
Ohne festen Wohnsitz
Seit vier Monaten lebt Felix nun schon mit seiner Mutter in einem alten Minibus. Anfangs war es für ihn noch ein Abenteuer: Sommerferien im Bus. Schlafen wo man will, Parken wo einen das Schicksal hinführt. Da war es nicht weiter schlimm, dass seine Mutter Job und Wohnung verloren hatte. Doch mit Beginn des neuen Schuljahrs wird aus dem Abenteuer Schlafen im Bus ein Versteckspiel. Immer muss Felix auf der Hut sein, seinem besten Freund Dylan nicht zu viel zu erzählen. Nicht selten muss er ihn anlügen und alltägliche Routinen werden für Felix zu einem Hürdenlauf. Schon bald bemerkt sein Lehrer Veränderungen und spürt, dass etwas nicht stimmt. Doch Felix wiegelt ab und lügt. Mit der Zeit werden die finanziellen Probleme immer größer. Da entwickelt Felix einen Plan, wie er sich und seiner Mutter aus der Misere retten kann. Gleichzeitig erfährt er aber auch, was Freundschaft wirklich bedeutet und dass er sich auf seine Freunde wirklich verlassen kann. Trotz all der Lügen.
Bewegender Jugendroman
Susin Nielsens Geschichte über den 13-jährigen Felix und seine Mutter geht unter die Haut und lässt die Leserin oder den Leser nicht mehr los. Die Autorin zeichnete das Bild einer Familie, die durch die Verkettung unglücklicher Umstände, durch soziale Pechsträhnen und fehlender Alternativen abrutscht und in die Obdachlosigkeit gerät. Zunächst hatten sie ja noch ein Dach über dem Kopf, ein kleines Häuschen sogar. Doch nicht zahlbare Reparaturkosten zwangen sie zum Verkauf und den Umzug in eine Mietwohnung. Damit begann der Abrutsch erst, wie uns Felix selbst erzählt. In einem Rückblick lässt er uns teilhaben an seinem Leben, in dem seine mittlerweile verstorbene Großmutter und seine alleinerziehende Mutter feste Bestandteile sind.
Nach und nach entfaltet sich eine Geschichte über unsichtbare Obdachlosigkeit, die einen berührt und nachdenklich stimmt. Immer wieder kommt das Motiv der Scham auf. Dabei geht es nicht nur um die Wohnsituation, sondern alles, was sie mit sich bringt. Felix beobachtet seine Mutter dabei, wie sie hier und da Kleinigkeiten stiehlt. Es sind diese typischen Dinge, von denen man glaubt, sie fallen nicht auf: Der Geldschein aus dem Portemonnaie der Freundin, das Deo im Supermarkt, der Apfel auf dem Markt. Während Felix‘ Mutter es mit überteuerten Preisen eines kapitalistischen Systems rechtfertig, quält den Jungen das schlechte Gewissen und er nimmt sich vor, alles zurückzuzahlen.
Eine andere Form der Scham begegnet uns beim Thema Körperhygiene. Der Bus bietet natürlich keine Möglichkeit des Duschens oder Waschens. Es wird zur täglichen Herausforderung, im Gemeindezentrum zu duschen oder sich auf der Schultoilette zu waschen. Nicht selten ist die Zeit dafür knapp und seine Freunde werfen Felix seltsame Blicke zu. Rausreden, rauswinden. Felix wird zu einem Meister darin. Und doch kommt, was kommen muss: Seine Freunde entdecken Felix‘ Geheimnis. Damit wendet sich das Blatt aber nicht sofort. Felix und vor allem seine Mutter lehnen jegliche Hilfe ab. Teilweise aus Scham, teilweise aufgrund schlechter Erfahrungen in der Vergangenheit. Doch als es zu einem unschönen Zwischenfall kommt, begreift auch Felix‘ Mutter, dass sie ohne Hilfe nicht weiterkommen.
„Adresse unbekannt“ ist fesselnder Jugendroman von Susin Nielsen, in dem es um versteckte Obdachlosigkeit, Freundschaft, Hilfsbereitschaft, Scham, Ehrlichkeit und Geldsorgen geht. Es ist eine Geschichte, die berührt und zum Nachdenken anregt. Man wird das Buch nach dem Lesen nicht einfach aus der Hand legen und zum nächsten greifen. Nein, man wird noch lange über die Geschichte und über die darin handelnden Figuren nachdenken.
Details
-
Originaltitel:No fixed address
-
Erschienen:08/2020
-
Umfang:284 Seiten
-
Typ:Hardcover
-
Altersempfehlung:13 Jahre
-
ISBN 13:9783825152260
-
Preis (D):17,00 €