Es gibt Ereignisse, die beginnen recht unspektakulär, gerät man jedoch in ihren Sog, reißen sie einen regelrecht davon. Vor allem in Klassenverbänden können Dinge eine Eigendynamik entwickeln und Richtungen annehmen, die man so nicht geplant und noch weniger geahnt hat. Davon erzählt Alexandra Kui in ihrem Jugendroman „Trügerischer Sog“.
Wenn Mobber zum Mobbingopfer werden
In jeder Klasse gibt es den Einen oder die Eine, der/die das Sagen hat. Der bestimmt, wer zu den Beliebten und wer zu den Losern gehört. In Frau Hoppes Klasse ist das Sara. Die selbsternannte Fürstin ist noch nicht lange an der Schule, doch hat sie schnell das Ruder an sich gerissen. „Friedhof der Namenlosen“ nennt das Mädchen die Schule und wer es nicht wert ist, dessen Namen merkt sie sich auch nicht. Irgendwann hat die junge Geschichtslehrerin genug von Saras Eskapaden und Mobbingattacken. Sie nimmt ihre Klasse mit zu einer Klassenreise auf die Nordseeinsel Maroog. Denn hier liegt der echte Friedhof der Namenlosen; derer die im Meer den Tod gefunden und anonym beerdigt worden. Die Lehrerin hofft, dass die Schüler bei der Restauration des Friedhofs zu einer Gemeinschaft zusammenwachsen, die gestärkt in ihren Schulalltag zurückkehrt. Doch sie hat die Rechnung nicht nur ohne Sara gemacht, sondern auch ohne den zurückhaltenden Kim, einem von Saras Opfern. Der hat genug von der Tyrannei der selbsternannten Klassenfürstin und setzt sich zur Wehr. Und damit ist er nicht lange alleine…
Klassenfahrt zu den dunklen Abgründen der Seele
Mobbing im Klassenverband hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Schnell können Kinder in die Außenseiterrolle rutschen, ebenso schnell können sie aber auch zu Mobbern werden. Das Internet trägt hier eine ganz wesentliche Rolle dazu bei, Stichwort Cybermobbing und Sexting. Für Lehrkräfte ist schwer einzugreifen und solchen Attacken Einhalt zu gebieten. Da bieten Klassenfahrten mit absolutem Handyverbot gute Lösungsansätze. Denn schon immer hat sich auf einer Klassenfahrt der Charakter Einzelner erst richtig gezeigt. Die Braven wurden plötzlich zickig, die sonst anstrengenden Schüler/-innen wurden umgänglicher. Und wo könnte man weniger Internetverbindung haben, als auf einer (zugegeben fiktiven) Insel in der Nordsee? Alexandra Kui hat das perfekte Setting gewählt. Auch das Klassenprojekt, einen Friedhof der Namenlosen zu restaurieren, überzeugt. Projekte und gemeinsame Aktivitäten schweißen zusammen, besonders dann, wenn hinter ihnen große und bewegende Geschichten stehen. Was ist bewegender, als Ertrunkene ohne Identität? Ist dies nicht eine traurige Vorstellung?
Frau Hoppes Klasse bleibt davon nicht unberührt. Sie werden ruhig, beginnen nachzudenken. Nur eine tut das nicht, Sara. Sie bleibt ihrer Linie treu: zickig, arrogant, überheblich. Was stimmt mit dem Mädchen nicht, dass sie sich so aufführen muss?
Um zu verstehen, was in der Klasse vorgeht, wie die Schüler denken und fühlen, erzählt die Autorin die Ereignisse abwechselnd aus der Perspektive der Klassenqueen Sara und des ruhigen Kim. Zwei sehr gut gewählte und vor allem gegensätzliche Charaktere. Wir erfahren, warum Sara geworden ist, wie sie ist (was sie aber deswegen nicht sympathischer macht). Wir lernen in Kim einen ruhige und besonnenen Jugendlichen kennen, der jedoch auch eine Toleranzgrenze hat, die seinen Charakter von Grund auf umkrempeln lässt. Letztendlich ist die eine Demütigung zu viel, die Kim dazu bringt, die Klasse gegen Sara aufzuhetzen. Die einstige Queen merkt, wie ihr Thron zu wackeln beginnt. Wie sie Boden verliert und durch ihre boshafte Art selbst ihre vermeintlichen Freundinnen gegen sich aufwiegelt. Am Ende steht sie ganz alleine da. Lässt sie das umdenken? Viel zu spät. Sie sieht sich lange als armes Opfer, fängt an um sich zu schlagen und löst damit schreckliche Dinge aus. Anders hingegen ist Kim. Er genießt es zunächst natürlich, Sara in die Enge zu treiben, sie zu quälen. Bis zu einem bestimmten Punkt, an dem er merkt, dass er zu weit gegangen ist. Dass seine Rachepläne eine Eigendynamik entwickeln, die er so nicht will. Und dann gibt es noch eine dritte Problemsituation in dem Klassenverband, jedoch dreht es sich hier eher um die engagierte junge Klassenlehrerin. Auch sie trägt ihr Päckchen, auch sie hat einiges auf dem Kerbholz, das ihr am Ende (und leider auch durch das Zutun von Sara) zum Verhängnis wird.
„Trügerischer Sog“ von Alexandra Kui zeigt sehr eindrucksvoll und fesselnd, wie Mobbing-Situationen ihren Anfang nehmen, wie sie kippen, sich in eine andere Richtung wenden können, aber auch, wie man sie durchbrechen kann. Wunden lassen sie immer zurück, mitunter sehr große und solche, die niemals wieder heilen können. Alexandra Kuis Jugendroman gibt seiner Leserschaft viel mit auf den Weg und zeigt, wie leicht es ist, den falschen Weg zu gehen und in einen verhängnisvollen Strudel zu geraten. Etwas, dessen man sich bewusst sein sollte.
Details
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Erschienen:03/2021
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Umfang:320 Seiten
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Typ:Taschenbuch
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Altersempfehlung:14 Jahre
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ISBN 13:9783570165942
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Preis (D):15,00 €