Die Menschenscheuche

von Michael Stavarič, Stella Dreis (Illustrator*in)
Rezension von Janett Cernohuby | 10. Dezember 2019

Die Menschenscheuche

Sie stehen auf Feldern oder in Gärten: Hässliche Kreaturen, zusammengeschustert aus alten Lumpen, deren einzige Aufgabe es ist, Krähen und andere Vögel davon abzuhalten, die Saat zu fressen. Die Tiere haben sie schon längst durchschaut. Sie haben uns Menschen durchschaut und einer von ihnen, ein kleiner Rabe, nimmt Rache, indem er eine Menschenscheuche baut.

Die Rache eines Raben

Hoch oben im Baum ist ein Rabennest, aus dem ein kleiner Rabe einen guten Blick über Felder und Wiesen hat. Auf eben jenen Feldern sieht er eine Vogelscheuche stehen. Neugierig fragt er seine Mutter, was es mit dem lumpigen Gesellen auf sich hat. Diese erklärt dem kleinen Raben, dass die Menschen die Vogelscheuchen aufstellen, um die Tiere zu erschrecken. Der kleine Rabe fühlt sich sehr gekränkt und verletzt. Er kann das Tun der Menschen nicht verstehen, ihre Boshaftigkeit und ihre Gemeinheit nicht vergessen. Und so beschließt er, eine Menschenscheuche zu bauen, die allen Menschen Angst machen soll. Sein Plan geht auf - doch der Rabe empfindet keine Genugtuung, er empfindet Scham. Mit einem Mal ist ihm bewusst, dass man Gleiches nicht mit Gleichem vergelten kann und so flattert er mit schwerem Herzen zurück in den Wald.

Die Menschenscheuche

Mehr als nur eine Geschichte über Vogelscheuchen und Raben

Was sich im ersten Moment wie eine Fabel anhört, wie eine Ermahnung, Gleiches nicht mit Gleichem zu vergelten, ist bei genauerem Hinschauen so viel mehr. Es ist eine Ermahnung an uns Menschen, an unser Denken, unser Handeln, unsere Motivation. Dabei geht es nicht darum, dass wir Vogelscheuchen auf Felder stellen, um die Vögel daran zu hindern, unsere Saat zu fressen. Es geht nicht nur darum, dass wir eben diese Ernte nicht mit ihnen teilen wollen. Nein, es geht um etwas ganz anderes. Es geht um das Schlechte, das in uns wohnt. Es geht um die Gier, um den Egoismus, um den Narzissmus. Wir Menschen sehen uns als Herren dieser Welt. Wir glauben, mit der Natur, mit Pflanzen und Tieren so umgehen zu können, wie es uns gut dünkt.
Genau das will der Rabe mit seiner Menschenscheuche zeigen. Er will etwas schaffen, dass uns Menschen Angst einjagt, so wie wir den Tieren Angst einjagen wollen. Sein Plan geht auf, natürlich. Eine Mutter mit ihrem Kind kommt des Weges - und beide erschrecken furchtbar vor dem schauerlichen Ungetüm dort auf dem Feld. Doch genau in diesem Moment erkennt der Rabe, wie falsch sein Handeln war. Er versucht gut zu machen, was nicht mehr gut zu machen ist.
Und als Leser/-in stellt man sich unweigerlich die Frage: Sind wir auch schon dort angelangt? Kann man noch gut machen, was wir Pflanzen und Tieren angetan haben?

Die Menschenscheuche

Michael Stavarič bedient sich für seine Geschichte vieler Symbole und Metaphern. Da ist die Vogelscheuche, da ist das Kreuz, über dem der zerlumpte Geselle gebaut ist. Er bringt das Gleichnis der Rabenmütter, die, wenn es sich dabei um Menschen handelt, ihre Kinder vernachlässigen, anders als echte Raben. Immer wieder fallen Andeutungen auf die rücksichtslose Ausbeutung der Natur durch uns Menschen. Und alles das platziert der Autor in einem Bilderbuch, einem Buch für Kinder. Ja, es ist düster und es bereitet uns mit seiner klaren Sprache so manches Mal Unbehagen. Dennoch funkelt in ihm auch Hoffnung durch. Denn genauso wie der Rabe seinen Fehler einsieht, können auch wir unsere noch einsehen und daraus lernen.

Die Menschenscheuche

Begleitet wird die poetische Geschichte von eben solchen imposanten Illustrationen. Stella Dreis schuf sehr eindrückliche Bilder, die fragil und feingliedrig sind. Wunderbare, zarte Farben der Natur wechseln sich mit düsteren Fragmenten ab. Zwischen weggeworfenen, halb verrosteten Helmen, kaputten Gabeln und anderem Unrat schimmern zarte Blumen und bunte Federn hervor. Diese Darstellung von Gegensätzen unterstreicht nicht nur den Grundton der Geschichte selbst, sondern berührt auch den Betrachter, die Betrachterin.

„Die Menschenscheuche“ ist ein sehr gefühlsbetontes Bilderbuch, das mit seiner poetischen und tiefgründigen Geschichte zum Nachdenken anregt. Darüber, ob man Gleiches mit Gleichem vergelten soll, aber auch darüber, wie rücksichtslos wir Menschen mit der Natur umgehen. Das macht es zu einem Kinderbuch, das sanfte Gemüter verängstigen könnte, das jungen Lesern aber trotzdem nicht vorenthalten werden sollte.

Details

Bewertung

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