Jutta Wilke im Gespräch
"Ich bin keine Autorin, die mit dem pädagogischen Zeigefinger schreibt."
Beitrag von Janett Cernohuby | 23. Oktober 2017
Hoch über den Dächern spielt sich Dramatisches ab – diese Szenerie präsentiert sich in Jutta Wilkes neuem Jugendroman „Roofer“. Wir trafen uns mit der deutschen Kinder- und Jugendbuchautorin auf der Frankfurter Buchmesse 2017 und plauderten über ihr neuestes Werk.
In den letzten Jahren war es etwas still um dich, nun bist du mit einem neuen Roman zurück. Erzählst du uns etwas über diesen?
Ich war eigentlich ganz fleißig, für verschiedene Verlage. Hier bei Coppenrath ist kürzlich "Roofer" erschienen. Roofer nennen sich Jugendliche und junge Leute, die mit Vorliebe auf Baustellen und Baukränen von Hochhäusern herumlaufen beziehungsweise turnen und sich auf Eisenträgern 100 m über dem Erdboden ganz nach außen bewegen. Das filmen sie - der eigentliche Sinn der Sache - und stellen es bei Youtube und anderswo ins Netz.
Wie bist du auf die Idee für das Setting gekommen?
Ich bin über Russland, beziehungsweise über russische Videos auf die Szene gekommen. Der Spiegel berichtete darüber. Ich dachte damals "Wahnsinn!". Diese Roofer sind überhaupt nicht abgesichert, begeben sich auf die höchsten Baustellen und Hochhäuser der Welt und turnen da rum - nur für den Kick, für die Selbstdarstellung. Das hat mich erst einmal erschreckt und dann aber fasziniert. Wenn ich etwas kennenlerne, frage ich mich als Autorin natürlich immer, warum macht jemand so etwas? Welche Motivation steckt dahinter. Also dachte ich, ich muss das in einer Geschichte verpacken, um herauszufinden, was die Motivation ist, warum junge Leute das tun. In "Roofer" habe ich eine Clique entwickelt, die diesen Sport betreibt. Sie nennen es Sport, für mich ist es Wahnsinn. Dabei konnte ich natürlich auch die einzelnen Figuren so installieren, dass aus der Clique noch mal eine Gesamtheit wird, mit der ich zeigen konnte, wie sie miteinander agieren, wie sie aufeinander reagieren. Am Rande gibt es auch eine kleine Liebesgeschichte. Immer wieder taucht dabei die Frage auf, wie weit würde man gehen, nur um dem anderen zu beweisen, dass man zu ihm hält. All diese Fragen, die in Cliquen immer wieder auftauchen, konnte ich mit diesem Extremsport unglaublich gut darstellen. Sicher, es hätte auch jede andere Sportart sein können, jede andere Mutprobe, aber Roofing war eben so extrem, dass es sehr gut gepasst hat.
Warum hast du Frankfurt als Handlungsort gewählt?
Ich komme aus der Gegend und verlege mein Setting gerne in eine Ecke, in der ich mich auskenne. Es hätte genauso gut New York oder Hamburg sein können, aber in Frankfurt bin ich zuhause. Ich wollte auch zeigen, dass das Thema genau vor der Haustür stattfinden kann.
Die Jugendlichen in deinem Roman kommen alle aus einem schwierigen, sozialen Umfeld. Nikolas ist obdachlos, Nastis Familie arm und Alice leidet unter ihrer Familiensituation. War es schwer, sich in die Charaktere hineinzuversetzen?
Ich fand es nicht so schwer. Sie sind sehr verschieden und auch ihre Hintergründe sind es. Die einen haben reiche Eltern, können sich auch mal eine GoPro leisten, kommen an Geld. Andere wiederum haben einen schwächeren sozialen Hintergrund. Es fiel mir nicht schwer, mich in sie hineinzuversetzen, da ich im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit mit so vielen verschiedenen Jugendlichen zusammen arbeite, dass ich mich in jeden von ihnen gut hineinversetzen konnte.
Sind auch in der richtigen Szene die Hintergründe der Jugendlichen so verschieden?
Ja, sind sie. Es sind natürlich häufig - behaupte ich jetzt mal, ich kenne nicht alle Roofer – Jugendliche oder junge Menschen, die ein Problem mit ihrem Selbstwertgefühl haben. Die aus irgendeinem Grund glauben, dass sie nicht wahrgenommen werden. Das kann ja ganz verschiedene Auslöser haben. Es kann jemandem passieren, der sozial auf dem absteigenden Ast sitzt, es kann jemandem passieren, der sozial völlig abgesichert ist. Trotzdem kann ein Mensch durchs Raster fallen und sagen „Ich werde nicht mehr wahrgenommen“. Und das ist ja das, was sie mit dem Roofing erreichen wollen. Zu zeigen, dass es sie gibt, wahrgenommen zu werden.
Was ist der Reiz daran? Warum gehen jung Menschen dieses Risiko ein?
Ich glaube, das ist so ein bisschen das allgemeine Problem, das Jugendliche heutzutage haben. Wenn wir uns mal umgucken. Wir beide sind auch in sozialen Netzwerken aktiv, wir sind im Internet aktiv. Ich als Autorin muss immer gucken, dass ich irgendwo gesehen, wahrgenommen werde. Das ist immer, immer schwerer. Viele Leute glauben bei Twitter oder Facebook jedes Schnitzel und jeden Eisbecher den sie essen, posten zu müssen, nur um das Gefühl zu haben, mir hört jemand zu, mich sieht jemand. Ich glaube, es ist immer schwerer das Gefühl zu haben, ich bin noch eine eigenständige Persönlichkeit, mich sieht jemand, mich nimmt jemand wahr. Ich glaube, es geht gar nicht so sehr darum, als Held wahrgenommen zu werden, sondern erstmal überhaupt noch gesehen zu werden und nicht in dieser Masse an Informationen unterzugehen. Und ich glaube, dass man sich entweder ganz zurückzieht und aufgibt, oder dass man so extrem wird. Das geht hin bis zum Amoklauf. Also ich sag das jetzt so böse, aber Amokläufer sind ja auch oft Jugendliche oder junge Leute, die gesagt haben, mich sieht keiner mehr und die einfach nur einmal im Leben eins wollen: Aufmerksamkeit.
Roofing ist ein brisantes Thema. Gab es Momente beim Schreiben des Romans, in denen du an diesem Thema gezweifelt hast?
Zweifel hatte ich von Anfang an, auch ein bisschen Angst. Es war eine Gratwanderung. Man muss es so schreiben, dass es nicht zum Nachahmen verführt. Die Angst ist immer dabei. Ich habe dann andere Sachen gelesen. Da ging es nicht um Extremsport, es gibt ja auch Jugendbücher, die sich zum Beispiel mit Selbstmord beschäftigen. Da besteht auch ein bisschen die Gefahr, dass alle losrennen und sagen, das machen wir jetzt auch. Es gibt ja seit Goethe diesen "Werther-Effekt" in der Literaturszene. Das darf eben nicht passieren. Das hatte ich beim Schreiben die ganze Zeit vor Augen. Ich hoffe einfach, dass mir diese Gratwanderung gelungen ist.
Ab Herbst werde ich auf Lesereise gehen und mit Jugendlichen über mein neues Buch sprechen. Da werde ich es thematisieren und auch fragen, wie die Jugendlichen es empfunden haben. Ob sie es jetzt ausprobieren wollen oder nicht. Ich habe sehr bewusst Unfälle eingebaut, um klarzumachen, wie gefährlich das Ganze ist.
Was willst du Jugendlichen mit diesem Buch mit auf den Weg geben?
Ich bin keine Autorin, die mit dem pädagogischen Zeigefinger schreibt, das auf gar keinen Fall. Aber ich möchte schon jedem Leser, in diesem Fall natürlich vor allen Dingen jungen Menschen, immer wieder sagen "du bist etwas wert, du bist wertvoll." Du musst vor allen Dingen dir selbst erst einmal etwas wert sein und du bist nicht drauf angewiesen, jeden Hype mitzumachen und jedem Trend hinterherzurennen. Hör auf dich selbst und auf deine engsten Freunde. Gespräche mit realen Menschen sind manchmal wichtiger viele als Klicks zu erhalten.
Du bist Schriftstellerin, gibst Schreibkurse, engagierst dich für die Leseförderung und bist Mitglied in verschiedenen literarischen Verbänden. Wie sieht dein Arbeitsalltag aus?
Es ist nicht unbekannt, ich habe fünf Kinder. Jetzt sind - fast zum Glück - schon zwei nicht mehr Zuhause, sondern studieren inzwischen. Drei sind es eben noch und das heißt, mein Arbeitstag richtet sich natürlich sehr nach dem ganz normalen Familienalltag. Ich fange dann an zu arbeiten, wenn alle aus dem Haus sind, das ist morgens ab halb 8. Der Vormittag bis zur Mittagszeit gehört in erster Linie dem Schreiben. Dann muss ich eben auch als Mama wieder da sein. Das heißt, ich hab einen strikten Zeitplan. Ich setzte mich um halb 8 hin, arbeite zuerst alle Mails ab, fange dann zu schreiben an und wenn die Kinder dann - sie sind ja nicht mehr so ganz klein - versorgt sind, nachmittags, dann kann ich wieder an den Schreibtisch und kümmere mich um die Verbände, Foren und Organisationen. Ich gucke kein Fernsehen, das spart enorm viel Zeit. Wir leihen oder kaufen manchmal DVDs, gehen gerne ins Kino, aber ich schau überhaupt kein Fernsehen und da habe ich eine Menge Zeit. Klar, auf Lesereisen fällt das Schreiben dann meistens flach. Man muss sich das ein bisschen organisieren.
Du gehst jetzt ab Herbst wieder auf Lesereise?
Ich hatte schon einzelne Lesungen, aber die Hauptsaison ist jetzt ab nächster Woche, anschließend von November bis Weihnachten. Meistens lese ich in Schulen oder in Bibliotheken, die Schulklassen einladen, wo dann oft aber auch andere dazukommen dürfen. Wir Kinder- und Jugendbuchautoren werden leider nur noch ganz selten von Buchhandlungen zu öffentlichen Lesungen eingeladen. Es ist einfach zu schwierig, auf diesem Weg die Jugendlichen zu erreichen, deshalb bin ich schon dankbar, dass es die Form der Jugendbuchlesungen in Schulen gibt.
Welche Beobachtungen machst du während deiner Arbeit für die Leseförderung? Wie begeisterungsfähig sind deine jungen Zuhörer?
Sie sind sehr viel begeisterungsfähiger, als es die Lehrer annehmen. Ich erlebe ganz oft, dass Lehrer mich vorwarnen. Meine Lieblingszielgruppe ist die 8. Klasse Hauptschule. Lehrer kommen oft und sagen: "Die Schüler sind ganz schwierig, die fassen kein Buch an." Ich habe natürlich ein paar Tricks und schaffe es, dass wir am Schluss über die Bücher sprechen. Schüler sind begeisterungsfähig, man muss sie nur anpacken. Als Autorin sage ich, da fehlt in der deutschen Leseförderung ganz, ganz vieles. Als Mutter kann ich sagen, solange im Unterricht mit Gottfried Keller angefangen wird, kann das nichts werden. Kinder brauchen Bücher, die sie da abholen, wo sie sind, die sich mit der Welt befassen, in der die Kinder leben, die ihre Themen aufgreifen. Wenn man dann viel liest und Erfahrung mit dem Lesen hat, sich auskennt, kann man auch klassische Lektüre lesen. Erst dann hat man auch die Erfahrungswerte und den Blick dafür, diese Art Literatur einzuordnen und zu verstehen. Aber für jemanden mit 13/14 Jahren, der mit dem Lesen und mit Lektüre erst anfängt, ist es meines Erachtens kontraproduktiv, wenn man Gottfried Keller, Kleist oder Eichendorff hervorholt. Wenn ich kochen lerne, fange ich doch auch erst einmal mit etwas einfachem an und wage mich nicht gleich an ein 6-Gänge-Menü. Zum Lesen muss man Kinder und Jugendliche erst hinführen, wenn das nicht zu Hause schon geschehen ist. Es gibt wirklich wunderbare Jugendbücher. Die Tendenz unter Kindern und Jugendlichen geht übrigens weg vom eBook zum gedruckten Buch, habe ich kürzlich gelesen.
Auf der Frankfurter Buchmesse wurde der Kinder- und Jugendliteraturpreis verliehen.
Oh, mein Lieblingsthema.
Vorweg: Es sind wunderbare Bücher, die da ausgezeichnet wurden. Ich möchte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, die ausländischen Kollegen könnten keine tollen Bücher schreiben. Es sind wunderbare Bücher, die Jugendbücher habe ich auch alle gelesen. Trotzdem bin ich als deutsche Kinder- und Jugendbuchautorin sehr, sehr, sehr enttäuscht, dass nicht ein einziger deutschsprachiger Titel den deutschen Kinder- und Jugendliteraturpreis bekommen hat. Ich bin seit vielen Jahren neben anderen deutschen Kollegen tätig gewesen, habe versucht, etwas zu ändern. Wir waren bis im Familienministerium in Berlin, wir hatten dort Termine, es ist nie etwas passiert. Wir wollen auf keinen Fall den Eindruck erwecken, wir wollen keine anderssprachigen Kollegen, sondern wir wollen gerne, dass der Preis anders ausgeschrieben wird. Wir wollen eigentlich erreichen, dass es eine Extrasparte für Lizenzen [Anm. d. R.: ausländische Titel] gibt und eine für deutschsprachige Autoren. Aber es wird nicht gemacht. Immer mit der Begründung, wir wollen zeigen, wie weltoffen wir sind. Das war die ursprüngliche Intention, als der Preis nach dem zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen wurde. Das war verständlich für die damalige Zeit, als Deutschland zeigen musste, dass wir wieder weltoffen sind. Aber ich denke, seitdem sind viele Jahre vergangen und es ist für mich ein Schlag ins Gesicht den deutschen Kinder- und Jugendbuchautoren zu sagen, keines eurer Bücher ist es würdig und wert, hier einen Preis zu kriegen.
Die Bücher werden von Verlagen eingereicht. Dafür gibt es einen bestimmten Zeitraum, innerhalb dessen sie in der deutschen Sprache erschienen sein müssen. Wenn ein Verlag also einen Titel auf Deutsch neu herausbringt, der im Originaltitel bereits sehr erfolgreich war, hat der natürlich eine bessere Chance, als ein Titel von einem deutschsprachigen Autor, der gerade erstmals erscheint. Es liegt also an den Verlagen und an den Kriterien. Der Verein sagt, es ist keine Autorenförderung, sondern es ist Leseförderung. Wir wollen Kindern zeigen, welches die besten Bücher sind. Nur wer macht in Deutschland die Leseförderung? Kein Autor aus Japan, Kanada oder Schweden kommt in die deutschen Schulen und hält dort Lesungen.
Was wird man als nächstes von dir zu lesen bekommen? Was sind deine aktuellen Pläne?
Es wird im Januar einen Jugendroman geben, nicht bei Coppenrath, sondern in einem anderen Verlag. Eine schöne Geschichte über drei Jugendliche, die sehr verschieden sind, aber lernen müssen, miteinander klarzukommen.
Liebe Jutta, vielen Dank, dass du dir die Zeit für das Interview genommen hast und wir wünschen dir viel Erfolg mit „Roofer“ und sind schon gespannt auf deinen nächsten Jugendroman.