Wenn es um Kindererziehung und vor allem deren Entwicklungsschritte geht, liegt ein enormer Druck auf Eltern. Nicht etwa, weil sie diesen selbst verursachen, indem sie Wunderkinder erwarten. Nein, dieser Druck wird von der Gesellschaft ausgeübt. Großeltern, Tanten, Nachbarn und Freunde wissen genau, wann ein Kind was können muss und fordern dies immer wieder ein. Und wehe, jemand entspricht diesen Anforderungen nicht. Dann geht es ihm, wie dem kleinen Vögelchen in Sabine Bohlmanns und Emilia Dziubaks Bilderbuch.
Der richtige Moment für Mut
Dieses ist im Frühling als letztes aus seinem Ei geschlüpft. Seine Geschwister waren da schon vierzehn Tage früher dran und schauten neugierig in die Welt. Doch dieses kleine Vögelchen ließ sich einfach etwas mehr Zeit. Genauso verhielt es sich auch, als seine vier Geschwister begannen, vom Nestrand zu hüpfen und erste Flugversuche zu starten. Das kleine Vögelchen beobachtete sie dabei, entschied aber, dass es noch nicht mutig genug fürs Fliegen war. Morgen, ja morgen vielleicht. Seine Vogeleltern störte das nicht, sie wussten, dass ihr Jüngstes noch etwas Zeit brauchte, bis es soweit war. Doch die anderen Tiere sahen das nicht so. Jeden Tag flogen sie vorbei, sahen nach dem Kleinen und gaben lautstark kund, dass es doch nun endlich mal fliegen lernen müsste. Mit dem Vogel würde etwas nicht stimmen, sagten sie. Und, es sei nicht normal, dass es sich so viel Zeit ließe. Doch die Vogeleltern hörten nicht zu. Sie machten ihrem Kleinen Mut, sagten, es solle sich so viel Zeit nehmen, wie es bräuchte. Irgendwann käme schon der Tag, an dem es mutig genug sei, um vom Nestrand loszufliegen. Und tatsächlich, als der Sommer voranschreitet, finndet der kleine Vogel den Mut, seine Flügel auszustrecken und in ein neues Leben zu starten.
Jeder hat sein eigenes Tempo
Eigentlich sollte dieses Buch weniger von Kindern als von Erwachsenen gelesen werden. Und zwar von all jenen, die ständig wissen, wann ein Kind welchen Entwicklungsschritt gemacht haben muss, um normal zu sein. Obwohl ständig gepredigt wird, dass jeder anders ist und dass das gut so ist. Warum gilt das nicht, wenn es um die persönliche Entwicklung von Fertigkeiten und Kompetenzen geht? Warum müssen Kinder da plötzlich nach gesellschaftlich aufgestellten Normen funktionieren?
Sabine Bohlmann beschreibt in diesem Buch den Druck und die Erwartungshaltung ganz großartig. An die Stelle von uns Menschen rücken Vögel, doch die Thematik bleibt die gleiche. Ein Junges entwickelt sich etwas langsamer als seine Geschwister. Für die Vogeleltern ist das völlig in Ordnung, doch die Gesellschaft sieht das anders. Ständig besuchen sie die Familie, geben ungefragt ihre Ansichten und Meinungen wieder und wollen einfach nicht akzeptieren, dass jeder sein eigenes Tempo hat. Wer nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht, der kann nicht normal sein. Bewundernswert sind die Vogeleltern, die sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, sondern ihr Junges immer wieder dazu ermutigen, sich die Zeit zu nehmen, die es braucht. Egal was alle anderen sagen. Und diese Botschaft ist es auch, die bei Eltern und Kindern hängen bleibt. Die sie ebenfalls bestärkt, im eigenen Tempo weiterzumachen und sich nicht den falschen Erwartungen der anderen zu unterwerfen. Denn wie man am Ende sieht, ist aus dem ängstlichen Vogelkind ein glücklicher und starker Vogel geworden, der nun sein eigenes Leben beginnt. Und das ist etwas, das man seinen Kindern wünscht. Glücklich und bestärkt in ein eigenes Leben zu starten. Und das gelingt nur durch Einfühlungsvermögen und Zuspruch.
So stark und wunderbar die Geschichte ist, so zauberhaft sind auch Emilia Dziubaks Illustrationen. Zwischen Ästen, Zweigen und geschützt von einer dichten Blätterwand hat sie das Nest der Vogelfamilie platziert. Warme Naturfarben verleihen den Bildern eine waldige Atmosphäre. Die Lieber der Eltern zu ihren Küken ist in jedem Bild spürbar. Die Sonnenstrahlen, die immer wieder durch die Blätter durchscheinen, machen Hoffnung und spenden Zuversicht. Man sieht den Kummer des kleinen Vogels, aber auch die mutmachenden Blicke seiner Eltern. So ergänzen diese traumhaft schönen Bilder die warmherzige Geschichte ganz wunderbar, was auch die Botschaft gleich stärker zur Geltung bringt.
„Morgen bin ich mutig“ ist ein ganz wunderbares und wertschätzendes Bilderbuch für Familien, die ihren Kindern die Zeit zum Heranwachsen geben, die sie brauchen. Die ihnen immer wieder mit liebevollen Worten Mut zusprechen, ganz gleich was die Gesellschaft um sie herum sagt. Es ist eine Geschichte über das Vertrauen in sich und sein Können, gerade wenn beides manchmal etwas mehr Zeit zum Heranreifen braucht. Dann ist das so - und das ist völlig in Ordnung.
Details
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Erschienen:02/2025
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Umfang:32 Seiten
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Typ:Hardcover
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Altersempfehlung:3 Jahre
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ISBN 13:9783845861005
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Preis (D):16,00 €